Zeichensprache

Als Rom gegründet worden war, fehlten der Stadt geschriebene Gesetze. Um diesem Mangel abzuhelfen, beschlossen die Römer, sich aus Griechenland, wo seit alter Zeit die Weisheit heimisch war und wo schon vor der Entstehung des Christentums die Klügsten erkannt hatten, dass es nur einen wahren Gott gebe, ein Gesetzbuch auszubitten. Sie kamen nun darin überein, nicht die Ehre eines weisen und angesehenen Mannes auf's Spiel zu setzen, sondern einen Narren nach Griechenland zu senden und diesen wie einen Würdenträger auszustatten; würde er Erfolg ernten, so sei erwiesen, dass ein römischer Narr mehr wert sei als alle griechischen Weisen; geschehe es aber, dass er unverrichteter Dinge heimkehren müsste, so hätten die Griechen nur einen Narren überwunden. Der Plan wurde ausgeführt, und der römische Abgesandte gelangte glücklich nach Byzanz. Er blieb auf seinem Schiffe sitzen und sandte Boten in die Stadt, welche seine Ankunft melden und seine Forderung mitteilen sollten. Die Griechen wurden durch diesen Antrag in nicht geringe Verlegenheit versetzt, und man berief die weisesten Meister, um Rat einzuholen, was zu tun sei, damit man von den Römern nicht überlistet werde. Nach vielem Hin- und Herreden beschloss man, den Römer durch den weisesten griechischen Gelehrten prüfen zu lassen, um zu erfahren, wie es mit dem Wissen und der Einsicht des Fremden bestellt sei. Damit beide Teile sich von ihrer Würde nichts vergäben, wurde bestimmt, dass jeder der beiden Disputierenden durch Worte oder durch Zeichen verständigen solle; und zwar entschieden sich die Griechen für das letzere, weil diese Art der Unterredung einem Ungelehrten nicht geläufig sein werde.
Nachdem alles abgemacht und schliesslich noch bestimmt war, dass kein Dritter der Disputation beiwohnen dürfe, kamen die beiden Gegner zusammen und nahmen schweigend, ohne zu grüssen, auf den für sie hergerichteten Sitzen einander gegenüber Platz. Der Grieche begann die Verhandlung, indem er einen Finger in die Höhe hielt; der Römer beantwortete die Zeichen dadurch, dass er drei Finger emporrichtete. Hierauf streckte der Grieche seine Hand aus, so dass die Handfläche nach oben wies; der Römer wiederum erhob die geballte Faust und reckte sie seinem Gegner entgegen. Nun wies der Grieche mit einem Finger in die Luft; der Römer dagegen zeigte mit einem Finger auf die Erde. Hiermit war die Disputation beendet, und beide begaben sich schweigend fort. Als der Grieche in die Stadt kam, scharte sich alles Volk um ihn, um zu erfahren, welchen Aus- gang die Verhandlung genommen habe; er aber gab keine Antwort, ehe er in die Ratsversammlung der Weisen gelangte. Hier erklärte er, dass er den Römer als einen Mann von hoher Weisheit gefunden habe. Er sprach: "Einen Gegenstand von solcher Tiefe und Bedeutsamkeit wählte ich, dass derselbe den meisten Männern unserer Zeit noch verborgen ist. Zuerst hielt ich einen Finger empor, um dadurch anzudeuten, dass es nur einen Gott gebe; er aber hob drei Finger in die Höhe, um damit zu sagen, dass diese Einheit eine Dreiheit sei. Darauf machte ich eine Bewegung mit der flachen Hand, womit ich ausdrücken wollte, dass Gott in seiner Güte alles lenkt; der Römer dagegen zeigt mir die geballte Faust und machte mir dadurch deutlich, dass der Allmächtige uns fest in seiner Gewalt hat. Endlich wies ich mit meinem Finger gen Himmel zum Zeichen, dass Gott erhabener sei al alles Erschaffene; er aber zeigte mit seinem Finger auf die Erde, um auszudrücken, dass Gott nicht nur die Höhe, sondern auch die Tiefen und Gründe beherrsche."
Als der Meister seine Erzählung beendet hatte, erklärten die Anwesenden einstimmig, der Fremde sei ein ausgezeichneter Mann, dessen Antrag schnell und in ehrenvoller Weise Erledigung finden müsse. Somit erhielt der Römer das Gesetzbuch und fuhr damit heim. Schon auf dem Wege äusserte er nur Hohn und Spott über die Griechen, und als man ihn in Rom fragte, wie er es angestellt habe, einen so günstigen Erfolg zu erringen, antwortete er: "Der Bursche, der mit mir verhandelte, merkte bald, dass mit mir nicht wie mit einem Kinde zu spassen ist. Er streckte zuerst einen Finger aus, als wolle er drohen, mir ein Auge auszukratzen; ich aber hielt ihm drei Finger entgegen, um ihm begreiflich zu machen, dass ich ihm, wenn er auch drei Augen hätte, alle ausreissen würde. Darauf erhob er seine flache Hand, um mir eine Ohrfeige zu versetzen; ich dagegen zeigte ihm die geballte Faust, damit er merkte, ich sei willens, ihm einen Hieb vor den Kopf zu geben. Endlich wies er mit einem Finger in die Luft und drückte dadurch aus, er wolle mich an den Galgen henken lassen; ich aber zeigte auf die Erde und machte ihm dadurch deutlich, dass er zu Hölle fahren würde, wenn er mich an den Galgen brächte. Er sah ein, dass ich ihm gewachsen war, und darum gab er seinen Wiederstand auf, und ich erhielt das Buch."