Am 4. April fragte Verena:
Lieber Hofnarr, guten Morgen
Ich habe eine Frage: "Warum werden Männer, die sexuell, körperlich oder emotional übergriffig sind von Frauen und Männern in Schutz genommen?
Danke für Deine Antwort
Verena
Hier die Antwort des Hofnarren:
Liebe Verena
Ich habe Deine Frage der Fachfrau weitergeleitet, hier ihre Antwort:
Liebe Verena
Sexuelle Belästigung und Übergriffe sind so normal, dass sie niemand als Straftat wahrnimmt.
Weder Frauen noch Männer.
Am eindrücklichsten ist die Geschichte von Wilhelm Reich:
Er hielt vor ca. 100 Jahren an einem Kongress in Wien einen Vortrag vor 400 Psychologen.
Da beschrieb er einen Orgasmus, der für die Frau und den Mann beglückend ist: Mann und Frau lieben sich. Beide haben Lust, sich zu begegnen. Sie fühlen sich körperlich und seelisch zueinander hingezogen. Die Lust steigert sich durch gegenseitigen Austausch von Zärtlichkeiten bis zum Orgasmus, und nach dem Orgasmus liegen Mann und Frau glücklich und eng umschlungen völlig entspannt noch lange beieinander. sie geniessen die Ruhe und den Frieden, der sich in ihnen ausbreitet.
Dann beschrieb Reich den damals üblichen Orgasmus: Der Mann fällt über die Frau her, bumst sie, hat einen Samenerguss, und nach seinem „Orgasmus“ dreht er sich um und schläft. Die Frau liegt neben dem Mann und weint still vor sich hin.
Als Wilhelm Reich seinen Vortrag beendet hatte, war zuerst ist einmal langes Schweigen im Saal. Dann brach ein Sturm der Entrüstung los, dass es einer wagt, auszusprechen, was seit Jahrhunderten als Folge der christlichen Erziehung und der dadurch entstandenen Frauen- und Körperfeindlichkeit alltäglich geworden war!
Die 400 Psychologen waren dermassen konsterniert über das Faktum, dass man auch "anständig" sein könnte, wenn man mit einer Frau schläft, dass sie Wilhelm Reich aus dem Psychologen-Verband warfen und ihn verleumdeten.
Zuletzt wurde er in Amerika ins Gefängnis geworfen, seine Bücher wurden noch in den 50er Jahren verbrannt und er wurde kurz vor seiner Entlassung im Gefängnis getötet.
(David Boadella, Wilhelm Reich. Leben und Werk. Bernd Senf, Die Wiederentdeckung des Lebendigen)
Inzwischen glauben wir, es habe sich einiges getan, und wir glauben, dass wir in Bezug auf die Sexualität etwas dazu gelernt haben. "Sexuelle Befreiung" war das Stichwort der 70er Jahre. Was ist daraus geworden?
Die alte Form und Einstellung zu unserem Frausein, zu unserem Körper und unserer Sexualität sitzt noch so tief in unseren Knochen, dass sie immer noch von der Mutter zur Tochter und vom Vater zum Sohn weitergegeben werden: "Die Frauen sind zum Brauchen da und mehr nicht. Das ist normal."
Andererseits wurde Sexualität zum Geschäft. Das Internet lebt von Sexuellen Übergriffen an Kindern und von Pornographie. Durch die Anonymität des Internets ist eine noch nie dagewesene Verbrechertätigkeit von ungeheuerlichem Ausmass entstanden.
Vor der "sexuellen Befreiung" gab es dieses Geschäft auch, aber es war unter erschwerten Bedingungen zugänglich. Heute ist dieses Geschäft überall sichtbar (Werbung) und bereits kleine Kinder haben Zugang zu den grauenhaftesten Machenschaften. Sie werden zum Teil bereits als Kleinkinder im Kindergarten "aufgeklärt", auch wenn sie in diesem Alter normalerweise noch kein Interesse an den Fragen der Sexualität zeigen. Bereits das ist meiner Ansicht nach ein sexueller Übergriff.
Sexualität interessiert Kinder in diesem Alter nur, wenn sie von jemandem missbraucht werden... Das heisst, wir sollten immer hellhörig werden, wenn ein Kind bereits im 3. bis 7. Altersjahr öfter über Sexualität spricht. - In welcher Form auch immer.
Natürlich, wenn Kinder sehen, dass eine Frau schwanger ist, und ein Baby auf die Welt kommt, dann wollen sie wissen woher das kommt und wie das geht. Wenn man dann diese Fragen beantwortet, dann sind sie schnell zufrieden und wenden sich wieder anderen Themen zu.
Ein Kind hat durch die noch nicht abgeschlossene Entwicklung seines Gehirns keine Möglichkeit, sich verbal auszudrücken, wenn es etwas "Unerhörtes" erlebt. Ein Kind sagt nie direkt: Mein Vater macht etwas mit mir, das ich nicht will.
Bei einem Missbrauch-Thema kommen Kinder aber im Spiel oder in ihren Zeichnungen immer wieder darauf zurück. Dann müssten die Erwachsenen hellhörig werden.
Warum kommen aber diese Hilferufe nicht an? Weder bei den Müttern, Vätern noch bei anderen Bezugspersonen?
Die Mütter, die von ihren Männern auch heute noch übergriffig behandelt werden, kennen nichts anderes, sie erlebten es bereits, als sie noch im Leib ihrer Mutter waren. Es ist für sie "normal". Sie erleben es nicht als Verbrechen, genau so wenig, wie es ihre Mutter als Verbrechen erlebte. Auch der Täter erlebt seine Tat nicht als Verbrechen. Auch er hat bereits im Mutterleib erlebt, wie sein Vater mit der Mutter umgeht.
Manchmal sind die Mütter sogar froh, wenn es der Vater mit der Tochter treibt, dann werden sie in Ruhe gelassen.
Wenn sich aber jemand auf den Weg macht und seinen Vater oder Onkel (oder wen auch immer) anzeigen will, dann beginnt ein Spiessrutenlauf. Diese Frauen werden als Lügnerinnen und Verleumderinnen dargestellt. Genau wie Wilhelm Reich werden sie mit Drohungen und zum Teil mit körperlicher Gewalt ruhiggestellt.
Wer kann beweisen, was im stillen Kämmerchen geschieht?
Die Männer streiten praktisch immer vehement ab, was sie getan haben. Warum sollten sie es zugeben? Sie sagen sich: "Das Kind hatte doch auch Freude daran".
Die meisten Frauen und Kinder verdrängen die sexuelle Gewalt sofort nach dem Geschehen. Sie spalten sich von sich selbst ab. Sie gehen während dem Geschehen in die Schock-, das heisst Totenstellung, damit sie möglichst nichts spüren. Und dies deuten die Männer: Das Kind bzw. die Frau ist damit einverstanden. Jeder der bereits einmal einen Schock erlebt hat, weiss, dass er in diesem Moment nicht reagieren und daher auch nicht schreien kann. Wenn wir aber einen Missbrauch in uns abgespaltet haben, dann werden wir auch später nichts mehr hören wollen zum Thema Missbrauch. Wir hören also nicht hin, wenn ein Kind andeutet, dass mit ihm etwas geschieht, was es nicht will.
Heute glaubt man, man könne den Kindern in der Schule sagen: Ihr müsst etwas sagen oder Euch wehren, wenn etwas geschieht mit Euch, das ihr nicht wollt. Das funktioniert meistens nicht aus dem obigen Grund.
Meistens kann sexueller Missbrauch erst nach vielen Jahren in einer guten Therapie aufgearbeitet werden. Ich rate keiner Frau, die als Kind missbraucht wurde, ihren Vater oder wer auch immer anzuzeigen, weil sie sich damit einer weiteren Traumatisierung aussetzt. Sie wird einmal mehr nicht ernst genommen und man glaubt meistens den Tätern und nicht den Opfern. Die üblichen Strafen für jahrelangen Missbrauch, welche diese Männer bekommen sind lächerlich. Drei Jahre bedingt und Fr 10'000.- Schmerzensgeld sind nochmals eine Ohrfeige ins Gesicht einer missbrauchten Frau.
In meiner Praxis sind 40 - 50 Prozent der Frauen sexuell, körperlich oder emotional missbraucht worden. Meistens kommen sie zu mir, weil sie körperliche Symptome bzw. unbestimmte Schmerzen haben, sie haben Angstzustände, sind magersüchtig, können sich nicht mit Partnern längere Zeit einlassen oder haben andere Symptome.
Vieles kann ohne das Wissen der Täter geheilt werden. Mit einigen Gebrechen müssen diese Frauen ihr ganzes Leben umgehen lernen.
Eine missbrauchte Frau sagte: "Wer missbraucht wurde, der hat lebenslänglich".
Gleichzeitig weiss ich aber auch, dass Frauen mit Missbrauch-Themen, die es gewagt haben, ihre Geschichten aufzuarbeiten, starke und wunderbare Frauen werden. Gerade, weil sie wissen: Ich habe es überlebt und ich weiss daher, wie stark und wertvoll ich bin.
Noch etwas: Vergeben können und müssen wir Übergriffe nicht. Auch das ist ein alter Zopf der Kirche, welcher nur die Täter stärkt. Aber wir können die Verantwortung bei den Tätern lassen.
Soweit die Antwort der Fachfrau.
Herzlich, Hofnarr